1. Einführung: Der Paradigmenwechsel im deutschen Market Access
Die Einführung des Arzneimittelmarktneuordnungsgesetzes (AMNOG) am 1. Januar 2011 markierte eine Zäsur in der Geschichte des deutschen Gesundheitswesens, deren Nachbeben bis heute – und verstärkt im Jahr 2025 – die strategische Ausrichtung pharmazeutischer Unternehmen bestimmen. War Deutschland zuvor ein Markt der freien Preisbildung, in dem neue Arzneimittel ab Tag eins zu vom Hersteller festgesetzten Preisen erstattet wurden, etablierte das AMNOG ein System der evidenzbasierten Preisregulierung, das weltweit als eines der strengsten und methodisch anspruchsvollsten gilt.
Im Kern dieses Systems steht die frühe Nutzenbewertung durch den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA). Sie ist weit mehr als ein administrativer Verwaltungsakt; sie ist das Nadelöhr, durch das jede pharmazeutische Innovation treten muss, um ihren monetären Wert zu beweisen. Der Prozess entscheidet darüber, ob ein neues Medikament als echte therapeutische Innovation anerkannt und honoriert wird oder ob es in der preislichen Bedeutungslosigkeit des Festbetragssystems versinkt. Für Market Access Manager, Medical Affairs Verantwortliche und Geschäftsführer in der Pharmaindustrie ist das tiefe Verständnis dieses Verfahrens daher keine Option, sondern eine ökonomische Überlebensnotwendigkeit.
Die Relevanz dieses Themas hat sich durch die jüngsten gesetzgeberischen Eingriffe, insbesondere das GKV-Finanzstabilisierungsgesetz (GKV-FinStG), nochmals dramatisch verschärft. Die Zeiten, in denen ein „nicht quantifizierbarer Zusatznutzen“ noch Verhandlungsspielraum ließ, sind vorbei. Heute diktieren „Leitplanken“ und starre Preisregeln das Geschehen, was eine präzise Dossier-Strategie Jahre vor der eigentlichen Zulassung unabdingbar macht. Dieser Bericht liefert eine exhaustive Analyse des Status quo im Jahr 2025, basierend auf den aktuellsten Verfahrensdaten, gesetzlichen Grundlagen und Experten-Insights.
1.1. Die ökonomische Dimension: Einsparungen und Marktsteuerung
Um die Härte des Verfahrens zu verstehen, muss man die fiskalische Motivation betrachten. Das AMNOG wurde primär als Kostendämpfungsinstrument konzipiert, und die Daten des Jahres 2024 belegen dessen Effizienz eindrucksvoll. Allein im Jahr 2024 werden Entlastungen für die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) in Höhe von 10,3 Milliarden Euro erwartet. Kumuliert haben sich die Einsparungen seit Einführung des Gesetzes auf rund 45 Milliarden Euro summiert.
Für das Jahr 2025 prognostiziert der Verband der forschenden Pharma-Unternehmen (vfa) sogar ein Einsparvolumen von 12,2 Milliarden Euro. Diese Zahlen verdeutlichen den enormen finanziellen Druck, der auf dem Kessel des Systems lastet. Jeder Euro, den ein Hersteller im Erstattungsbetrag durchsetzen will, muss durch harte Evidenz gerechtfertigt werden. Die „Party“ der freien Preisgestaltung ist endgültig vorbei; an ihre Stelle ist ein rigoroser Wettbewerb der Daten getreten.
1.2. Der aktuelle Status 2024/2025: Eine Trendumkehr
Während die ersten Jahre des AMNOG von einer gewissen Lernkurve auf beiden Seiten geprägt waren, zeigen die Analysen für 2024 eine besorgniserregende Trendumkehr für die Industrie. Die Erfolgsquote sinkt. Von den rund 460 Arzneimitteln, die bis Ende 2024 das Verfahren durchliefen, konnten zwar 57 % einen Zusatznutzen belegen, doch die Qualität dieser Belege nimmt ab. Der Anteil der Verfahren mit einem „beträchtlichen“ oder „erheblichen“ Zusatznutzen hat sich im Vergleich zu den Vorjahren fast halbiert.
Dies ist kein Zufall, sondern die direkte Konsequenz verschärfter Anforderungen an die Evidenz und einer restriktiveren Auslegung der Methodenpapiere durch das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) und den G-BA. Gleichzeitig steigt die Komplexität: Die meisten Verfahren sind inzwischen keine Erstbewertungen mehr, sondern Neubewertungen nach Fristablauf oder Erweiterungen um neue Anwendungsgebiete. Das AMNOG ist somit kein einmaliges Ereignis bei Markteintritt mehr, sondern ein permanenter Begleiter im Lebenszyklus eines Präparats („Life Cycle Management“).
2. Der regulatorische Rahmen: Akteure, Fristen und Rechtsgrundlagen
Das Fundament der Nutzenbewertung bildet § 35a des Fünften Buches Sozialgesetzbuch (SGB V), flankiert von der Arzneimittel-Nutzenbewertungsverordnung (AM-NutzenV) und dem 5. Kapitel der Verfahrensordnung des G-BA (VerfO).
2.1. Die Hauptakteure und ihre Rollen
Das Verfahren ist durch ein komplexes Zusammenspiel verschiedener Institutionen gekennzeichnet, deren Rollenverständnis für die Strategieentwicklung essenziell ist:
- Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA): Er ist das oberste Beschlussgremium der Selbstverwaltung und der „Richter“ im Verfahren. Er legt die Spielregeln fest (z.B. die zweckmäßige Vergleichstherapie), beauftragt die Bewertung und trifft den finalen Beschluss über den Zusatznutzen. Der G-BA setzt sich aus Vertretern der Ärzteschaft, der Krankenkassen und der Krankenhäuser sowie unparteiischen Mitgliedern zusammen.
- Das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG): Das IQWiG fungiert als wissenschaftlicher „Gutachter“ des G-BA. Es prüft das vom Hersteller eingereichte Dossier auf methodische Robustheit und inhaltliche Validität. Das IQWiG entscheidet nicht, aber seine Empfehlung (Dossierbewertung) ist oft die Blaupause für den späteren G-BA-Beschluss.
- Der GKV-Spitzenverband: Er ist der Verhandlungspartner in der späteren Preisrunde, sitzt aber bereits im G-BA mit am Tisch und beeinflusst durch seine Stimmrechte die Bewertung. Kritiker bemängeln hier oft eine Doppelrolle als „Regelsetzer“ und „Partei“.
- Bundesoberbehörden (BfArM / PEI): Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte und das Paul-Ehrlich-Institut sind in den Prozess eingebunden, insbesondere bei der Festlegung von Anforderungen an Registerstudien oder bei Beratungsgesprächen.
2.2. Die „AMNOG-Uhr“: Ein gnadenloser Zeitplan
Das Verfahren unterliegt einem strikten gesetzlichen Zeitkorsett von sechs Monaten, das mit dem Tag des ersten Inverkehrbringens (Launch) beginnt. Fristverlängerungen sind im Gesetz praktisch nicht vorgesehen, was eine extreme Disziplin im Projektmanagement erfordert.
| Zeitfenster | Phase | Akteure | Details & Strategische Bedeutung |
| Vor Launch | Submission | Pharma-Unternehmer (pU) | Einreichung des Dossiers beim G-BA. Muss spätestens am Tag des Inverkehrbringens erfolgen. Ein Tag Verspätung kann formale Unvollständigkeit bedeuten. |
| Monat 1-3 | Bewertung | IQWiG / G-BA | Das IQWiG prüft das Dossier. In dieser Phase hat der pU kaum Einflussmöglichkeiten. Das IQWiG kann Rückfragen stellen, die oft sehr kurzfristig beantwortet werden müssen. |
| Monat 3 | Veröffentlichung | G-BA | Das IQWiG-Gutachten wird veröffentlicht. Dies ist oft der erste „Realitätscheck“ für den Hersteller. |
| Monat 3-4 | Stellungnahme | pU, Verbände, Experten | Schriftliches Stellungnahmeverfahren. Hier muss der pU die Kritik des IQWiG methodisch widerlegen. Auch Fachgesellschaften und Patientenvertreter äußern sich. |
| Monat 5 | Anhörung | G-BA Unterausschuss | Mündliche Erörterung. Der entscheidende Moment, um Missverständnisse auszuräumen und die eigene Dateninterpretation zu verteidigen. |
| Monat 6 | Beschluss | G-BA Plenum | Finaler Beschluss über den Zusatznutzen. Dieser Verwaltungsakt ist die Basis für die Erstattungsbetragsverhandlung. |
Nach dem Beschluss (ab Monat 7) beginnt die sechsmonatige Phase der Preisverhandlung. Seit dem GKV-FinStG gilt der neue Erstattungsbetrag rückwirkend ab dem 7. Monat, was den Zeitraum der freien Preisbildung faktisch halbiert hat.
3. Das Nutzendossier: Aufbau, Anforderungen und strategische Fallstricke
Das Dossier ist das Herzstück des gesamten Verfahrens. Es ist weit mehr als eine Zusammenstellung der Zulassungsstudien; es ist eine eigenständige, methodisch hochkomplexe wissenschaftliche Ausarbeitung, die den spezifischen Anforderungen des deutschen HTA-Systems (Health Technology Assessment) genügen muss. Ein Dossier umfasst oft mehrere tausend Seiten und hunderte von Anhängen.
3.1. Die Modulstruktur (Modul 1-5)
Die Gliederung ist durch die Verfahrensordnung streng vorgegeben. Abweichungen führen zur formalen Unvollständigkeit und damit zum Scheitern des Antrags.
Modul 1: Administrative Angaben und Zusammenfassung
Obwohl „nur“ eine Zusammenfassung, ist Modul 1 politisch brisant. Hier formuliert der Hersteller seinen Antrag auf Zusatznutzen („Claim“).
- Kritischer Inhalt: Enthält die formale Checkliste zur Vollständigkeit. Fehlt hier ein Kreuz oder ein Dokument, wird das Dossier nicht angenommen.
- Executive Summary: Hier werden die Ergebnisse aus Modul 4 für Entscheider (die oft nicht das ganze Dossier lesen) kondensiert. Die Sprache muss präzise und überzeugend sein.
Modul 2: Allgemeine Angaben zum Arzneimittel
Hier wird das Arzneimittel beschrieben, inklusive Wirkmechanismus und zugelassener Anwendungsgebiete.
- Falle: Der Wortlaut der Zulassung muss exakt übernommen werden. Kleinste Abweichungen zwischen Fachinformation und Dossier können zu Diskussionen über die abgebildete Population führen.
Modul 3: Zweckmäßige Vergleichstherapie und Epidemiologie
Dies ist neben Modul 4 der strategisch wichtigste Teil.
- Zweckmäßige Vergleichstherapie (zVT): Der Hersteller muss darlegen, gegen wen er vergleicht. Weicht er von der G-BA-Festlegung ab, muss dies hier extrem gut begründet werden (was selten gelingt).
- Patientenzahlen: Eine methodische Herleitung der Anzahl der GKV-Patienten im Anwendungsgebiet (Zielpopulation). Dies ist die Basis für spätere Budget-Impact-Analysen. Fehler hier führen zu falschen Umsatzprognosen und „Staffelrabatten“ in der Verhandlung.
Modul 4: Systematische Evidenzaufbereitung (Der „Core“)
Hier liegt die wissenschaftliche Substanz. Modul 4 ist in Unterverzeichnisse für jedes Anwendungsgebiet (AWG) gegliedert.
- Methodik: Es reicht nicht, die Studienberichte beizulegen. Die Daten müssen neu ausgewertet und nach den PICO-Kriterien (Patient, Intervention, Comparator, Outcome) des IQWiG aufbereitet werden.
- Endpunkte: Der G-BA akzeptiert primär patientenrelevante Endpunkte: Mortalität (Gesamtüberleben), Morbidität (Symptome) und Lebensqualität (HRQoL). Surrogate wie das progressionsfreie Überleben (PFS) werden oft als nicht patientenrelevant abgewertet oder nur als „Morbidität“ mit geringer Validität akzeptiert.
- Nebenwirkungen: Eine detaillierte Aufarbeitung der unerwünschten Ereignisse (AEs) ist zwingend.
Modul 5: Anlagen und Dokumentation
Hier liegen die Rohdaten: Klinische Studienberichte (CSR), Publikationen, Zulassungsdokumente und Referenzlisten.
- Geheimhaltung: In Modul 5 müssen Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse geschwärzt werden. Was hier übersehen wird, landet in der öffentlichen Datenbank des G-BA.
3.2. Die zweckmäßige Vergleichstherapie (zVT): Das Damoklesschwert
Kein Thema sorgt für mehr Kontroversen und gescheiterte Verfahren als die Bestimmung der zVT. Sie ist der Maßstab, an dem die Innovation gemessen wird. Ist der Vergleichsarm der Studie nicht „zweckmäßig“ im Sinne des deutschen Standards, ist die Studie für die Nutzenbewertung wertlos – egal wie gut die Wirksamkeit ist.
- Herausforderung Off-Label-Use: Oft ist der medizinische Standard in Deutschland eine Therapie, die formal gar nicht zugelassen ist (z.B. ältere Chemotherapien). Der G-BA definiert dann oft eine „Therapie nach ärztlicher Maßgabe“. Für den Hersteller ist es extrem schwer, Studien gegen eine nicht-zugelassene Therapie rechtssicher durchzuführen.
- Dynamik in der Onkologie: In sich schnell entwickelnden Indikationen (z.B. Lungenkarzinom) kann sich der Standard während der Laufzeit einer Studie ändern. Eine Studie, die 2020 gegen Chemotherapie geplant wurde, ist 2024 bei Einreichung vielleicht obsolet, weil inzwischen eine Immuntherapie Standard ist. Die Folge: Der Zusatznutzen gilt als „nicht belegt“.
- Formale Hürden: Die Rechtsprechung hat bestätigt, dass der G-BA einen weiten Spielraum bei der Festlegung der zVT hat. Hersteller können nur schwer dagegen klagen.
4. Strategische Vorbereitung: Beratung und Evidenzgenerierung
Angesichts der hohen Hürden ist eine „Trial-and-Error“-Strategie im AMNOG tödlich. Erfolgreiche Market Access Manager setzen auf frühzeitige Interaktion und präzise Planung.
4.1. Das G-BA Beratungsgespräch
Pharmazeutische Unternehmen haben einen Rechtsanspruch auf Beratung durch den G-BA (§ 35a Abs. 7 SGB V). Dieses Instrument sollte zwingend genutzt werden – und zwar so früh wie möglich.
- Timing: Eine Beratung zur Planung von Phase-III-Studien (PICO-Design, Endpunkte, zVT) sollte Jahre vor dem Launch stattfinden. Eine spätere Beratung kurz vor Einreichung klärt nur noch technische Details (z.B. Subgruppenanalysen).
- Ablauf: Der Antrag muss schriftlich gestellt werden, inklusive eines ausführlichen Briefing-Books. Der G-BA antwortet oft schriftlich vorab. Das eigentliche Gespräch dient der Klärung offener Punkte.
- Praxistipps:
- Stellen Sie geschlossene Fragen („Ist Therapie X die zVT?“), keine offenen („Was empfehlen Sie?“).
- Nutzen Sie das Protokoll als bindendes Dokument. Weicht der G-BA später im Verfahren von seiner Beratungszusage ab, ist dies einer der wenigen Punkte, die juristisch angreifbar sein können (Vertrauensschutz).
- Holen Sie sich Unterstützung durch spezialisierte Dienstleister wie AMS oder andere HTA-Beratungen, um „Mock-Consultations“ durchzuführen.
4.2. Biostatistik und indirekte Vergleiche
Da direkte Vergleichsstudien (Head-to-Head) gegen die spezifische deutsche zVT oft fehlen, gewinnen indirekte Vergleiche (z.B. Bucher-Methode, Netzwerk-Meta-Analysen) an Bedeutung.
- Das Problem: Das IQWiG akzeptiert diese nur unter extrem strengen methodischen Voraussetzungen (Ähnlichkeit der Studienpopulationen, Homogenität).
- Die Lösung: Eine frühzeitige statistische Machbarkeitsanalyse ist essenziell. Wenn ein indirekter Vergleich geplant ist, sollte dessen Methodik im G-BA-Beratungsgespräch abgestimmt werden.
5. Herausforderungen 2025: Leitplanken, Kombinationsabschlag und Kinderarzneimittel
Das AMNOG-System ist nicht statisch. Die Gesetzesänderungen der letzten Jahre, insbesondere durch das GKV-FinStG, haben die Rahmenbedingungen im Jahr 2025 massiv verschärft.
5.1. Die „Leitplanken“ des GKV-FinStG
Das Gesetz hat sogenannte Leitplanken für die Preisverhandlung eingezogen, die direkt an das Ergebnis der Nutzenbewertung gekoppelt sind.
- Geringer / nicht quantifizierbarer Zusatznutzen: Der Erstattungsbetrag darf nicht höher sein als der Preis der zVT. Das bedeutet faktisch: Innovationen, die „nur“ gleich gut sind oder deren Vorteil nicht exakt messbar ist (z.B. Orphan Drugs mit schwacher Datenlage), werden auf das Preisniveau generischer Standardtherapien gedrückt.
- Kein Zusatznutzen: Hier droht sogar ein Abschlag von mindestens 10 % unter den Preis der zVT.
- Folgen: Diese Regelung hat dazu geführt, dass der Anteil der Verfahren mit „beträchtlichem“ Zusatznutzen sinkt, da der G-BA (und die Kassenvertreter darin) wissen, dass eine niedrigere Bewertung direkte Spareffekte hat. Die Industrie spricht von einer „Fehlsteuerung“, die Forschungsanreize vernichtet.
5.2. Der Kombinationsabschlag
Eine weitere Neuerung ist der pauschale 20 % Abschlag für neue Arzneimittel, die in Kombination mit anderen teuren Wirkstoffen eingesetzt werden.
- Die Logik: Die Kassen wollen verhindern, dass sich die Kosten bei Kombinationstherapien (z.B. Immuno-Onkologie) einfach addieren.
- Das Problem: Die Umsetzung ist bürokratisch und fehleranfällig. Oft ist unklar, welche Präparate genau als „Kombinationspartner“ gelten. Für Unternehmen bedeutet dies eine kaum kalkulierbare Doppelbelastung neben dem normalen Erstattungsabschlag.
5.3. Besonderheiten: Orphan Drugs und Pädiatrie
- Orphan Drugs: Für Arzneimittel gegen seltene Leiden (Orphan Drugs) gilt der Zusatznutzen bis zu einer Umsatzschwelle von 30 Millionen Euro (früher 50 Mio.) als gesetzlich gesetzt. Überschreitet der Umsatz diese Grenze, muss ein volles Dossier nachgereicht werden. Die Absenkung der Schwelle hat dazu geführt, dass viel mehr Orphan Drugs in die reguläre Bewertung rutschen, wo sie aufgrund kleiner Fallzahlen oft scheitern.
- Pädiatrie: Der Anteil der Verfahren zu Kinderarzneimitteln ist von 1,6 % auf 16,4 % gestiegen.2 Das Problem: Klinische Studien an Kindern sind ethisch und praktisch schwierig. Der G-BA erkennt diese Besonderheiten jedoch oft nicht an und fordert die gleiche Evidenzhärte wie bei Erwachsenen. Hier besteht massiver Reformbedarf.
6. Der Blick nach vorne: EU-HTA und „Delta-Dossiers“
Ab Januar 2025 tritt die europäische Nutzenbewertung (EU-HTA) schrittweise in Kraft (beginnend mit Onkologika und ATMPs). Dies wird das AMNOG-Verfahren grundlegend verändern.
6.1. Joint Clinical Assessment (JCA)
Zukünftig wird die klinische Bewertung (Wirksamkeit, Sicherheit) auf EU-Ebene zentral durchgeführt („Joint Clinical Assessment“). Die Mitgliedsstaaten müssen diese Ergebnisse übernehmen und dürfen keine neuen klinischen Daten fordern.
6.2. Das nationale „Delta-Dossier“
Dennoch bleibt die Hoheit über den Zusatznutzen und die Preisfindung national. Deutschland wird daher ein ergänzendes Dossier fordern, das sogenannte Delta-Dossier.
- Inhalt: Dieses Dossier muss all jene Aspekte abdecken, die das JCA nicht liefert:
- Spezifische deutsche zVT (falls im JCA nicht abgebildet).
- Nationale epidemiologische Daten (Zielpopulation).
- Subgruppenanalysen, die für das deutsche System relevant sind.
- Versorgungsaspekte und Kostenanalysen.
- Herausforderung: Hersteller müssen künftig zwei Prozesse parallel managen: Den EU-Prozess (Fokus auf breite klinische Evidenz) und den nationalen AMNOG-Prozess (Fokus auf spezifische deutsche Anforderungen). Die Komplexität verdoppelt sich.
7. Fazit und Handlungsempfehlungen für pharmazie.com Leser
Die G-BA Nutzenbewertung im Jahr 2025 ist ein hochprofessionelles, datengetriebenes und regulatorisch extrem dichtes Verfahren. Die Romantik der „medizinischen Innovation“ ist einer nüchternen ökonomischen Kalkulation gewichen. Ein erfolgreicher Market Access erfordert heute eine integrierte Strategie, die klinische Entwicklung, Regulatory Affairs und Pricing/Reimbursement von Tag 1 an verknüpft.
Kritische Erfolgsfaktoren zusammengefasst:
- Antizipation der zVT: Wer die zVT falsch einschätzt, verliert. Nutzen Sie Beratungsgespräche und Simulationsstudien.
- Datenqualität: Investieren Sie in Register und RWE, aber seien Sie sich der methodischen Limitationen bewusst. Ohne Randomisierung ist es schwer.
- Prozessdisziplin: Die 6-Monats-Frist und die Modul-Vorgaben verzeihen keine Fehler. Nutzen Sie Checklisten und externe Validierung (Mock-Assessments).
- EU-HTA Readiness: Bereiten Sie sich jetzt auf die Koexistenz von JCA und Delta-Dossiers vor.
Der Mehrwert von pharmazie.com
Als Plattform für Pharma-Professionals bietet pharmazie.com nicht nur Informationen, sondern Werkzeuge für diesen komplexen Prozess.
- Netzwerk: Finden Sie spezialisierte Agenturen für Medical Writing und Biostatistik, die Erfahrung mit Delta-Dossiers haben.
- Daten: Greifen Sie auf Datenbanken zu, die historische G-BA-Beschlüsse und zVT-Entscheidungen analysieren, um Muster zu erkennen.
- Wissen: Nutzen Sie unsere Experten-Webinare zur aktuellen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zum Thema Mischpreise und Leitplanken.
Der Weg durch das AMNOG ist steinig, aber mit der richtigen Ausrüstung und den richtigen Partnern ist der Gipfel – ein fairer Erstattungsbetrag für eine echte Innovation – erreichbar.
Referenzen
- The German AMNOG Procedure – Healthecon AG, Zugriff am November 25, 2025, https://healthecon.iges.com/amnog/index_eng.html
- AMNOG 2024: Zusatznutzen, Datenerhebung, Einsparungen – VFA, Zugriff am November 25, 2025, https://www.vfa.de/de/gesundheit-versorgung/amnog/amnog-jahresrueckblick-2024
- Zusammenfassende Dokumentation – Gemeinsamer Bundesausschuss, Zugriff am November 25, 2025, https://www.g-ba.de/downloads/40-268-8140/2021-12-16_VerfO_Aenderung-Modulvorlage-Anlage-II-Kap-5_ZD.pdf
- Fristenberichte – Gemeinsamer Bundesausschuss, Zugriff am November 25, 2025, https://www.g-ba.de/ueber-den-gba/arbeitsweise/fristenberichte/
- Leitfaden Wechselseitige Beteiligung an Beratungsgesprächen beim Gemeinsamen Bundesausschuss und beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte bzw. Paul, Zugriff am November 25, 2025, https://www.g-ba.de/downloads/17-98-4342/Leitfaden%20gem%20Beratung_BfArM_PEI_G-BA_final.pdf
- FAQ zum Verfahren der Nutzenbewertung – Gemeinsamer Bundesausschuss, Zugriff am November 25, 2025, https://www.g-ba.de/themen/arzneimittel/arzneimittel-richtlinie-anlagen/nutzenbewertung-35a/faqs/
- AMNOG – Nutzenbewertung von Arzneimitteln gemäß § 35a SGB V | G-BA, Zugriff am November 25, 2025, https://www.g-ba.de/themen/arzneimittel/arzneimittel-richtlinie-anlagen/nutzenbewertung-35a/
- Erstellung und Einreichung eines Dossiers zur Nutzenbewertung gemäß § 35a SGB V – Gemeinsamer Bundesausschuss, Zugriff am November 25, 2025, https://www.g-ba.de/downloads/17-98-4827/2025-03-20_Anl2_1_Erstellung-Einreichung-Dossier.pdf
- Dossier zur Nutzenbewertung – Modul 1 Anhang, Zugriff am November 25, 2025, https://www.g-ba.de/downloads/17-98-4826/2025-03-20_Anl2_3_Anhang-Modul1_Checkliste.pdf
- AMNOG-Nutzendossier | AMS Advanced Medical Services GmbH, Zugriff am November 25, 2025, https://www.ams-europe.com/de/services/amnog-benefit-dossier/
- Dossier zur Nutzenbewertung – Modul 1, Zugriff am November 25, 2025, https://www.g-ba.de/downloads/17-98-4822/2020-02-20_Anl2_2_Modul1.pdf
- BSG, Urteil v. 22.02.2023 – B 3 KR 14/21 R – NWB Datenbank, Zugriff am November 25, 2025, https://datenbank.nwb.de/Dokument/1013560/
- (PDF) Änderungen der zweckmäßigen Vergleichstherapie – ResearchGate, Zugriff am November 25, 2025, https://www.researchgate.net/publication/364041118_Anderungen_der_zweckmassigen_Vergleichstherapie
- Die frühe Nutzenbewertung nach § 35 a SGB V – Ein Überblick über das Verfahren The early benefit assessment according to – Thieme Connect, Zugriff am November 25, 2025, https://www.thieme-connect.com/products/ejournals/pdf/10.1055/a-2144-6991.pdf
- Frühe Nutzenbewertung: Wie Sie vom Beratungsgespräch beim G-BA profitieren – co.value, Zugriff am November 25, 2025, https://www.covalue.de/fr%C3%BChe-nutzenbewertung-wie-sie-vom-beratungsgespr%C3%A4ch-beim-g-ba-profitieren
- Ergebnisse der Nutzenbewertung – Kategorien des Zusatznutzens | G-BA, Zugriff am November 25, 2025, https://www.g-ba.de/themen/arzneimittel/arzneimittel-richtlinie-anlagen/nutzenbewertung-35a/zusatznutzen/

